Die Lebenslinie, die durch das Herz verlief

Zurück

Man sagt, weihe niemanden in die Geheimnisse deiner Seele ein. Wahrscheinlich liegt darin seine eigene Bedeutung. Eine fremde Seele ist Dunkelheit, in welcher man sich leicht verirrt, und der Schlüssel dazu liegt in einer besonders verborgenen Ecke. Der Gast der heutigen Nummer ist Teodor Schulz, bekannter Journalist, Redaktor und Herausgeber, der am 13. Mai 70 Jahre alt wurde. Er hat viel gesehen, nicht wenig erlebt und tief verinnerlicht; er hat etwas, an was er sich erinnern kann, etwas zu erzählen. Rajngold Schulz (der auch als „Papa Schulz“ bekannt ist) fragte den Jubilar, seinen heiß ersehnten Schlüssel herauszugeben und einige Fragen zu beantworten.

 – Ich beginne mit einer Frage in einer alten Tradition: wie sind deine Vorfahren nach Wolhynien geraten?

Ich erinnere mich, ich wurde in der Jugend manchmal gefragt: Woher kommst du? Bist du nicht ein Nachkomme von genau den Deutschen, die in der Zeit des Vaterländischen Krieges Gefangene waren? Ich denke, dieses Interesse kam aus Neugier. Der Nachname ist deutsch, aber er spricht fließend russisch, praktisch ohne Akzent, er schreibt frei auf russisch. Aber sie haben beobachtet, dass in meinem Charakter irgend etwas liegt, das nur den Deutschen mit ihrer strengen Disziplin, der Genauigkeit und der Pünktlichkeit, mit ihrer konzentrierten Verschwiegenheit eigen ist.

Ich habe viel gelesen und kenne das Wesen der „russischen“ Deutschen: gutmütig wie Karl Iwanowitsch aus der „Kindheit“ Tolstojs, energiegeladen wie „Stolz“ aus dem „Oblomow“ von Gontscharow, einseitig zielstrebig wie Pektoralis in der Erzählung „Eiserner Wille“ von Leskow und wie die vielen „fremden“ Personen, mit denen die Seiten der russischen Klassik angefüllt sind.

Denen, die an meinem Familienstammbaum interessiert waren, habe ich geantwortet: „Ich bin ein Deutscher aus Wolhynien, meine Wurzeln väterlicherseits führen zu den Mecklenburgern, und mütterlicherseits zu den Brandenburgern“. Die Äußerung, dass die Familie von den Preußen abstammt und seltsamerweise mit irgendwelchen Deutschen aus Wolhynien in Zusammenhang steht, hat andere in die Sackgasse geführt. Kein Wunder. Die sowjetische Herrschaft hat ihre Geschichte sorgfältig aus dem öffentlichen Bewusstsein eliminiert… Um ehrlich zu sein, ich wusste es zu dieser Zeit selbst nicht.

– Können wir einen kleinen Exkurs in die Vergangenheit der Deutschen aus Wolhynien unternehmen?

– Historisch gesehen schuf Kaiser Friedrich nach der Aufteilung der königlichen Republik Polen-Litauen im 18. Jahrhundert zwischen Preußen, Russland und Österreich in den angegliederten Ländern Provinzen, in die 57.000 Familien (beinahe 300.000 Siedler) geschickt werden sollten, denen Privilegien und Erleichterungen versprochen wurden. So kamen meine Vorfahren dorthin. Aber tatsächlich waren sie nicht für lange dort.

Das zunehmende nationale Selbstbewusstsein der Polen und die Wellen der Befreiungsaufstände erschwerten die Durchsetzung dieser Pläne. Mehr als 200.000 deutsche Siedler wurden gezwungen, das polnische Königreich zu verlassen. Ein Teil von ihnen zog auf schnellstem Wege nach Wolhynien. Und meine Vorfahren wurden Bewohner von Zhitomir.

Die Linie der Mutter warf ihren Anker in der Siedlung Kiewka aus, wo der Vater meines Urgroßvaters Jakow Lau als Dorfältester, oder „Schulz“, wie man ihn zu dieser Zeit nannte, auserwählt wurde. Der väterliche Zweig ließ sich in Rozhischtsche nieder. Später siedelte die Familie nach Pulino-Guta über, wo sie ein kleines Waldstück mietete. Dorthin zog auch der Großvater Eduard Lau. Er besaß hier später 70 Hektar Ackerland, welches im Jahr 1929 in der Welle der Kollektivierung enteignet wurde. Der frühere wolhynische Getreidebauer verdiente sich vom ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Welt eine besondere „schwarze Marke“ – 10 Jahre Zwangsarbeit im Gebiet Krasnojarsk. Er kam in die Viljujsker Minen an der Lena-Aldan-Mündung, wo er Gold- und Diamantenerze förderte, Holz schnitt und verarbeitete oder Straßen baute. Es war ihm nicht bestimmt, nach Wolhynien zurückzukehren…

– Im Jahr 1936 begann bereits die Zwangsräumung der Deutschen aus Wolhynien. Der Großvater kam wahrscheinlich erst später frei?

– Ganz genau. Er kam nach Nordkasachstan, wohin bis dahin bereits seine Familie ausgesiedelt wurde. Er kam in eine Kolchose, wo er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in öden Arbeitseinheiten unter der strengen Aufsicht der Kommandantur arbeitete.

Nach meinen Berechnungen erfuhren 29 Menschen, Erwachsene und Kinder, aus beiden Zweigen der Familien Schulz-Lau die gewaltsame Ausweisung aus Pulino-Gula nach Sibirien (Stadt Kansk) und Nordkasachstan (Kreis Tschkalowsk, Punkt Nr. 11, später – Siedlung Zeljonyj Gaj). Darunter auch meine Urgroßeltern Fridrich Gotlibowitsch und Marta Emiljewna, geborene Entsch.

In ihrer Familie gab es 16 Kinder, von denen 10 überlebten – Augustina, Genrich (mein Großvater), Olga, Karolina, Berta, Ottilija, Radine, Kristijan, Edward und Robert. Wie vorher erwähnt, befanden sich hier auch der Großvater väterlicherseits Genrich Fridrichowitsch und die Großmutter Marta Karlowna, eine geborene Gudarian. Mütterlicherseits waren dies Eduard Jakowlewitsch Lau und Matilda Ioaganowna Lau, geborene Zimmer, sowie ihre Kinder: Ewald, Ella, Elmira, Elgard und Irma (meine Mutter). Der Großvater Eduard Lau war zuerst Hilfsarbeiter, danach arbeitete er 15 Jahre lang in einem Reitstall und kümmerte sich um Hengste. Als Pensionär hütete er Weiderind und verdiente so seinen Lebensunterhalt. Das bedeutete, sowjetische Kolchosenrente in der Höhe von 12 Rubel im Monat, das kann sich wohl kaum einer vorstellen…

Der Großvater Genrich Schulz war der erste Traktorfahrer auf der Kolchose. Mit der Technik kannte er sich sehr gut aus, so dass er später Vorarbeiter der Traktorenbrigade wurde. Er wurde sogar vor der Arbeitsarmee geschützt, andernfalls hätte die Technik auf dem Feld nicht funktioniert, sondern wäre nur herumgestanden.

– Über die Vertreibung der Deutschen aus Wolhynien nach Kasachstan im Herbst 1936 ist kaum etwas bekannt.

–  Ich habe darüber ausführlich in der sozial-geisteswissenschaftlichen Studie „Syndrom der Anspielung“ in dem Buch „Entgegengesetzt“ geschrieben, welches in den nächsten Tagen das Licht der Welt erblickt. Es waren viele, isolierte Sonderaussiedler, Deutsche und Polen, 15.000 Familien, beinahe 70.000 Menschen. Und alle hatten ein Stigma: „klassenmäßig zweifelhafte und sozial gefährliche Elemente“. Und die „kleinen Leute“, fremd und unerwünscht, landeten in einer verlassenen Ecke des großen Imperiums wieder, in Kasachstan, alleingelassen mit der asiatischen Steppe, verbrannt von der glühend heißen Sommersonne, gefroren von den eiskalten Winden und den langen Wintermonaten.

Hier, in der Region Koktschetaw, entstanden zwei Kreise – Tschkalowskij und Kellerowskij, in denen Kolchosen für die unter Zwang Vertriebenen Kolchosen eingerichtet wurden. So erschien am „Punkt Nr. 13“ die Siedlung Zeljonyj Gaj, in der die Kolchose „Stern der Kommune“ entstand, in der ich geboren werden sollte.

Ich räume ein, dass die neue Umgebung der wolhynischen Deutschen ein Testball in der Erschließung des „Stalinschen Neulandes“ war. Ich stelle fest, dass einige Transportwaggons mit deutschen Sonderaussiedlern aus Wolhynien in den Gebieten Alma-Ata und Taldy-Korgan landeten, auch in Sibirien, in Karelien und in der Republik Komi. Näheres zu alledem ist in meinem Buch zu finden.

– Wie entstand die Idee zu dessen Niederschrift?

– Auf jeden Fall nicht zufällig, obwohl sich der künstlerische Prozess jahrelang hinzog. Am Ende der Sechziger entstanden die ersten Seiten. Sowohl die Grundidee als auch der Versuch erwiesen sich als erfolglos. Für die Niederschrift des Buches hat mir zu dieser Zeit noch vieles gefehlt. Das, was die Verwandten im Familienarchiv aufbewahren konnten, was ich glücklicherweise aus den vereinzelten überlieferten Zeugnissen, Ereignisberichten und Fakten aufzeichnen konnte, erwies sich als offenkundig ungenügend für eine solch ernsthafte Arbeit. Das waren nur Staubkörner.

In eine anständige Bibliothek zu kommen, Zutritt zu den Spezialsälen der Moskauer „Leninka“ oder der Petersburger (Leningrader) „Publitschka“, in das Spezialarchiv der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zu erhalten, lag im Bereich der Fantasterei. Für einen Journalisten aus Kasachstan, von außerhalb, war das unerreichbar. Ich bin schließlich sogar zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass es überhaupt unmöglich ist, ein solches Buch vorzubereiten, geschweige denn, es zu veröffentlichen.

Im Jahr 1987, vor 32 Jahren, habe ich die historische Erde meiner Vorfahren betreten. Dort konnte ich zu dem jugendlichen Traum zurückkehren und habe wiederum angefangen, an dem Buch zu arbeiten. Schritt für Schritt habe ich die Geografie meiner Familie kennengelernt: Ich habe Anfragen an Archive gestellt, studierte historische Dokumente, durchsiebte Periodika und das Internet.

Das Verlangen kam auf, herauszufinden, wie die Urur- und Urgroßmütter aussahen, wie sie das Haus hielten, wie sie die Kinder aufzogen, welche Kleidung sie nähten und was sie kochten, welche familiären Werte sie vermittelten, wie sie ihren Glauben bewahrten, was sie besaßen, wie sie das Land bewirtschafteten und welche Ernten sie einfuhren. Allmählich sammelten sich interessante Fakten an, die darauf hindeuteten, wo meine Vorfahren lebten, wem sie dienten, wo sie Krieg führten. Durch Gefühle, Erkenntnisse und Emotionen habe ich die fehlenden Teile und Glieder zu einer gemeinsamen Kette unserer Familie vereint.

– Empfinden Sie  denn Nostalgie für Kasachstan, kommt nicht der Wunsch auf, zurückzukehren?

– In dieser Frage kommen widersprüchliche Gefühle auf. Einerseits bin ich ein russischer wolhynischer Deutscher. Wozu das „russische“, mag der ein oder andere Leser fragen, wenn doch Wolhynien historisch ukrainisches Territorium ist? Man muss verdeutlichen, dass zum Zeitpunkt der Übersiedelung meiner Vorfahren die Provinz ein Teil des russischen Reiches war. In der Region Zhitomir haben meine Urgroßeltern, Großeltern und Eltern gelebt, insgesamt einhundert Jahre lang bis zur erzwungenen Aussiedelung nach Nordkasachstan im Jahre 1936.

Andererseits bin ich in der weiten kasachischen Steppe auf die Welt gekommen, in der Region Koktschetaw, ich habe für die Regionalzeitung gearbeitet. Ich war später auch als Korrespondent im benachbarten Gebiet Nordkasachstan, habe für die Zeitung „Freundschaft“ geschrieben und in Petropawlowsk gelebt. Dann gab es einen Wechsel nach Alma-Ata, wo ich in dieser Funktion noch weitere fünf Jahre bis zur Ausreise in die Bundesrepublik tätig war. Darüber erzähle ich ziemlich ausführlich in meiner Geschichte „Aufzeichnungen eines Provinzjournalisten“.

In Kasachstan habe ich nicht wenige Freunde, Genossen oder einfach nur Bekannte – das sind gute, warmherzige und freundliche Menschen. Die kann man nicht einfach vergessen. Mit vielen halte ich den Kontakt aufrecht, darunter sind auch Kasachen, die ich oft auf erfolgreichen Lebensstationen getroffen habe. Und immer wurde Güte mit Güte erwidert. Es sind schon bald 50 Jahre, in denen ich eine schlichte und leise Freundschaft mit Amantaj Achetowyj hege, einem bekannten Poeten, Prosaisten und Publizisten, mit dem ich an der journalistischen Fakultät studierte.

Es war der Kasache Saken Schajmardanow, mein erster Redakteur und Mentor, der mir, dem Zeitungsjungen, die Einweisung ins Leben mitgab. Ich könnte diese Liste endlos weiterführen, aber ich denke, dass darin nicht der Kern liegt, sondern darin, dass man wahre Freunde dort kennenlernt, wo man es am wenigsten erwartet. Glauben Sie mir, ich rede von Kasachstan. In Deutschland beispielsweise habe ich es völlig anders erlebt. Leider war Freundschaft dort manchmal nur ein Wort. Sie hielt einer Hitzigkeit nicht stand und zerbrach über Nacht.

Auf den ersten Blick scheint es so, dass der Mensch im Leben alles in Geld berechnet. Tatsächlich bezahlt er für vieles kleine Stückchen seiner Seele und hinterlässt im Herzen unsichtbare Spuren, verursacht von Schmerz, Kränkung und Demütigung.

Ist Kasachstan Heimat für mich? Ich weiß nicht, ob dich diese Antwort befriedigt: ich empfinde tiefste Dankbarkeit für das Land, für das Volk, welches im Jahr 1936 die wolhynischen Deutschen aufgenommen hat, die gewaltsam ihres geografischen Schicksals, des gelobten Landes, welches ihnen vom Allmächtigen gegeben wurde, beraubt wurden.

In Kasachstan existierte ich als Bürger und Individuum. Hier habe ich die Schule beendet, eine Hochschulbildung und Arbeit erhalten, mit Mitglied der Union der Journalisten der UdSSR geworden. Ich habe mein Haupt vor den gefallenen Helden verneigt, habe Schmerz für die Vergangenheit und die Gegenwart der Sowjetunion durchlebt. Ich habe, wie alle glaubten, die menschlichste Bruderschaft, die glücklichste Gesellschaft der Welt mit aufgebaut. Wir haben Tragödien, Suchen und Unstetigkeiten überwunden, haben gewagt, geträumt, geliebt. Aber der ganze zerstörerische und schöpferische Sprudel endete mit dem Zusammenbuch der Sowjetunion, sie existiert nicht mehr auf der Landkarte… Es blieb die große Steppe, ein Volk, dass einen Staat fand, seine wahre Heimat. Und heute erheben sich die Kasachen in einem gemeinsamen Schwung, wenn die Hymne ihres Heimatlandes erklingt…

Betrachte ich Kasachstan denn als meine Heimat? Diese Frage hat noch eine zweite Seite, so wie bei einer Medaille. So befindet sich für mich auf ihrer Rückseite Kasachstan und auf ihrer Vorderseite Deutschland.

Und sie beide sind wie ein gemeinsames Ganzes, sie bestehen nebeneinander in meiner Seele. Es ist dieses mächtige Amulett, welches ich im Herzen trage und als Zeichen doppelten Glücks betrachte. Der Ruf des Vaterlandes ist eines der stärksten menschlichen Gefühle, mit denen der Schöpfer die Menschen ausgestattet hat.

Das Elternhaus, die Heimat, das Vaterland, das alles ist wie ein unsichtbarer Faden, die Nabelschnur, sie bindet jeden Menschen. So ist es einfach passiert, dass das Heilige mehr als alles andre geschätzt wird.

Interview: Reinhold Schulz

Übersetzung: Philipp Dippl

Поделиться ссылкой:

x