Aufruf an die Deutschen Kasachstans

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Liebe Landsleute!

Ich wende mich an Sie, die Deutschen Kasachstans, mit Sorge um das Schicksal der deutschen Sprache in unserer Gemeinschaft. Sie verschwindet rasend aus dem Alltag, aus unserer Kommunikation in der Familie, mit den Lieben und mit Freunden. Kann denn ein Mensch, der die deutsche Sprache nicht kennt, Deutscher sein? Möglicherweise kann er, aber wie kann er dann den ethnischen Reichtum besitzen, den man einer heranwachsenden Generation nur durch die Muttersprache vermitteln kann? Die Zugehörigkeit zu einer Nation definiert sich nicht über die biologische Vererbung, nicht über die Daten im Pass, sondern durch die bewusste Heranführung zu kulturellen Traditionen, durch die Treue zu den geistigen Werten, welche den Inhalt unserer Geschichte bilden, durch alles, was man in erster Linie durch Sprache erfährt. Sie wissen, dass im 20. Jahrhundert auf das Schicksal des deutschen Volkes schwere Erschütterungen und Bewährungsproben hinabfielen. Das schwere Schicksal traf auch die deutsche Sprache. Auf ihr (oftmals ausschließlich mit ihr) verständigten sich mehr als 420.000 Deutsche, die im Herbst 1941 nach Kasachstan deportiert wurden. 

 Auf Deutsch beteten in der Trudarmee und den Lagern heimlich unsere Eltern, Großmütter und Großväter. In der Muttersprache unterhielten sie sich in den Familien und bewahrten und behüteten sie behutsam auf diese Weise. Im Jahr 1955 wurde das Dekret „Über die Aufhebung der Einschränkung in der Rechtsstellung der Deutschen und der Mitglieder ihrer Familien, welche sich in den Spezialgebieten befinden“ erlassen, und bereits im Jahr 1957 wurde in den Schulen mit der Lehre der deutschen Sprache als Muttersprache begonnen. Es war nie sehr einfach, aber sogar unter den Bedingungen der Repressionen und der Verfolgung hat unser Volk seine Rechte auf den Erhalt und die Lehre der Muttersprache verteidigt. 

 Es ist noch nicht lange her, da gehörte auf allen allgemeinbildenden Schulen die deutsche Sprache zu der Liste der obligatorischen Lehrfächern. Aber im Laufe der letzten zehn Jahre mit dem Übergang zum dreisprachigen Lehrsystem ist sie praktisch aus dem Lehrprozess völlig herausgefallen. Bis zu einem bestimmten Moment bestand ein großes Risiko, dass die deutsche Sprache völlig und für immer aus dem kasachischen Bildungssystem verschwindet und wir unwiderruflich das verlieren, was über Jahre angesammelt wurde. Es war notwendig, Sofortmaßnahmen zur Stärkung der Position der deutschen Sprache zu ergreifen. 

 Nach der gesamtnationalen Konferenz im Oktober 2017 wurde die Wiederherstellung des Status der deutschen Sprache in den Schulen, ihr Erhalt und ihre Entwicklung zur priorisierten Ausrichtung der Aktivitäten der öffentlichen Stiftung „Wiedergeburt“.  

 Und wir haben viel erreicht. Der Staat in Person des Bildungsministeriums bekräftigte das Interesse darin, dass die deutsche Sprache ihren rechtmäßigen Platz in den mittleren und höheren Schulen einnimmt. 

 Für unsere Kinder gibt es jetzt wieder die Möglichkeit Deutsch von der ersten Klasse an zu lernen. Dafür wurden alle notwendigen Rechtsvorschriften übernommen, es wurden aktualisierte Programme für die ersten bis vierten Klassen erarbeitet, ein Schulbuch der neuen Generation ist in Arbeit,welches bis zum 1. September 2019 herausgegeben wird. Die Schulleitungen sind dazu verpflichtet, Deutschunterricht zu organisieren bei mindestens 5 bis 6 Interessenten, und natürlich, wenn es eine Lehrkraft gibt. Auf Basis der staatlichen Universität namens Sch. Ualichanow Kokschetau werden schon seit zwei Jahren Gruppen zukünftiger Deutschlehrer aus den Jugendlichen, die mit Finanzmitteln der deutschen Bundesregierung studieren, gebildet. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Republik Kasachstan verspricht, den Studenten der Fachrichtung „Lehrer für deutsche Sprache“ mehr Zuschüsse zukommen zu lassen. 

 Es gibt nicht wenige Probleme, aber wir sind bereit, diese systematisch zu lösen. Aber der grundlegende Punkt ist immer noch der Wusch der Eltern der Schüler bei der Wahl des Sprachunterrichts: Deutsch oder Englisch. Je größer das Bewusstsein für die Notwendigkeit ist, unseren Kindern die deutsche Sprache beizubringen, desto stärker ist die Bevölkerung darin bestrebt, sie als Schulfach zu wählen. 

 Ich mache keinen Hehl daraus, für mich war es ein Schock, als im letzten Jahr in meiner Heimatstadt Lisakowsk im Gebiet Kostanaj auf das Angebot des Schuldirektors, Deutsch zu lernen, die Eltern von acht (!) deutschen Erstklässlern mit einer Verweigerung reagierten. Ihre Entscheidung sei dadurch motiviert gewesen, da sie nicht planten, nach Deutschland überzusiedeln. Die Eltern von Schülern anderer Nationalitäten: Kasachen, Tataren, Russen, wollten, dass ihre Kinder Deutsch lernen, und unsere haben es abgelehnt! 

 Selbstverständlich können alle Deutsch lernen, unabhängig von ihrer Nationalität, so wie es früher war, als eine Hälfte der Klasse Deutsch gewählt hat, die andere Hälfte Englisch oder Französisch. Aber in erster Linie muss es bei uns, den Vertretern der deutschen Ethnie, einen Anreiz zum erlernen der Muttersprache geben. Mit der Wahl der deutschen Sprache geben die deutschen Eltern ihrem Kind die Möglichkeit, ihr Volk und ihre ethnische Kultur zu lieben, das Gefühl des Nationalstolzes zu erleben. 

 Der Präsident des Landes Nursultan Abischewitsch Nasarbaew hing die Latte für die heimische Bildung sehr hoch. Sie soll wettbewerbsfähig werden, von hoher Qualität und so ausgelegt sein, dass die Absolventen der kasachstanischen Schulen ihre Ausbildung an ausländischen Hochschulen fortsetzen können. Deutsch zu können hilft, die Türen zu den besten europäischen Universitäten zu öffnen. Das allerwichtigste ist ein anständiges Zeugnis und die Beherrschung von Sprachen. Deutsche Stiftungen finanzieren zahlreiche Austauschprogramme, Praktika und Sommerschulen für ausländische Studenten. Eine der wichtigsten Bedingungen für die Teilnahme in diesen Projekten ist, dass man Deutsch kann.  

 Viele unserer Landsmänner haben Kasachstan nach Deutschland verlassen, die ihre eigene „Brücke der Zusammenarbeit“ in vielen Bereichen haben, und die Kenntnis von Deutsch fördert die Stärkung dieser Brücke. 

 Es gibt eine Fülle an Argumenten, die für das Deutschlernen sprechen. Darüber muss man reden, sich mit den Eltern der Erstklässler unterhalten, mit den Lehrern und den Schuldirektoren, mit den Vertretern der Bildungsorgane. Dennoch ist für unsere Ethnie nationales Selbstbewusstsein als Verständnis seiner Zugehörigkeit zur deutschen Nation, die Herausbildung der Grundlagen des Charakters des ethnischen Deutschen und die Erzeugung von Verhaltensnormen, welche sich durch das Erlernen der deutschen Sprache formieren, das allerwichtigste. 

 Verehrte Landsleute, möglicherweise haben in den Regionen vor Ort noch nicht alle die notwendigen Informationen erhalten, nicht alle verstehen, dass die Wiedergeburt der deutschen Sprache Realität ist, es ist ein Erfolg, der von uns allen abhängt. 

 Natürlich müssen vor allem die regionalen Gesellschaften „Wiedergeburt“, die Aktivisten der deutschen Bewegung zu den Initiatoren der Rückkehr der deutschen Sprache in die Schulen werden. Das ist keine einfache Aufgabe, etwas wiederherstellen ist immer anstrengend. Schon in einem Monat beginnt die Erfassung der zukünftigen Erstklässler, und die Eltern sollten gut informiert sein und ihre Rechte kennen. Sie sollten sie kennen und realisieren. Es hängt von jedem von uns ab, ob die deutsche Sprache noch eine Chance erhält, ob ihr Erlernen aktiv in den Bildungsprozess in Kasachstan eingebunden wird. 

 Unsere Organisation heißt „Wiedergeburt“, und so sollen wir alle zusammen unsere Muttersprache wiederbeleben. Nur mittels aktiver Zusammenarbeit können wir eine bessere Zukunft für unsere Kinder und Enkelkinder fördern! 

 Achtung! Landsleute, erwacht!!! Entweder jetzt, oder es wird zu spät sein!!! Wenn wir es nicht tun, dann wird es kein anderer niemals mehr tun! 

  Hochachtungsvoll und hoffnungsvoll, Albert Rau, Abgeordneter der Mazhilis des Parlamentes der Republik Kasachstan, Vorsitzender des Verwaltungsrates der öffentlichen Stiftung „Wiedergeburt“ 

Übersetzung: Philipp Dippl

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