Das Zickzack des Glücks von Nadezhda Zigle

Zurück

Selbst in der Provinz können interessante Veranstaltungen zur Bewahrung der einheimischen deutschen Kultur veranstaltet werden. So sieht es die Vorsitzende der deutschen ethnokulturellen Vereinigung des Beskaragajsker Kreises im Gebiet Ostkasachstan Nadezhda Walentinowa Zigle, für die dieses Jahr eine doppelt wichtige Bedeutung hat – sie begeht ihr 70. Jubiläum und den 80. Jahrestag der Deportation der Deutschen.

Unsere Heldin wurde in eine Familie deportierter Deutscher hineingeboren. Ihr Vater, Valentin Ottowitsch Zigle, geboren 1923, wurde zusammen mit ihrer Mutter, Ottilia Emmanuilowna, im September 1941 in den Zharminsker Kreis im Gebiet Semipalatinsk (Heute Gebiet Ostkasachstan) umgesiedelt.

Der Vater war ein talentierter, gebildeter Mensch. Die Familie lebte in Baku, hatte ein eigenes Haus, Freunde, Verwandte, Respekt und gute Arbeit. Aber alles änderte sich über Nacht, als der brutalle Erlass zur Deportierung der Deutschen herausgegeben wurde. Der Großvater, Otto Gotlibowitsch Zigle, wurde sofort erschossen.

Um es vorweg zu greifen, der Großmutter meiner Gesprächspartnerin ist es gelungen, nach dem 20. Parteikongress einen Brief an Nikita Chruschtschow zu schreiben und die Rehabilitierung ihres Mannes und sogar eine Rente zu erwirken!

– Im Jahr 1941 wurden mein Vater und meine Großmutter in die Arbeitsarmee geschickt, – erinenrt sich Nadezhda Zigle. – Der Vater kam nach Solikamsk, in die Minen des nördlichen Uralsm und die Großmutter zum Bau einer Ölpipeline in Kujbyschew, dem heutigen Samara. Als sie von der unmenschlichen Arbeit zurückkamen, befand sich mein Vater im letzten Stadium einer Dystrophie. Er stieg an der Eisenbahnstation Zhangiztobe aus und musste bis zum Ort der Verbannung noch etwa 50 Kilometer zu Fuß laufen! Auf dem Weg klopfte er bei verschiedenen Häusern und fragte nach einer Übernachtung. Die örtlichen Kasachen nahmen ihn freundschaftlich für die Nacht auf, sie gaben ihm zu Essen und am nächsten Morgen spannten sie einen Stier ein und brachten ihn an den richtigen Ort. Diese Tat blieb für immer im Herzen meines Vaters, und während seines ganzen Lebens empfand er ein Gefühl des tiefen Respekts und der Dankbarkeit gegenüber dem kasachischen Volk für die Freundlichkeit, das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft. Papa hat immer gesagt, dass seine Heimat hier, in Kasachstan, ist, und er wollte nie weggehen, nicht nach Russland, nicht nach Deutschland, nicht nach Aserbaidschan, wo er geboren und aufgewachsen ist.

Valentin Ottowitsch fand Arbeit an einer Schule, da er Deutsch perfekt konnte und auch Kasachisch beherrschte. Im Jahr 1956, als alle Verleumdungen gegen die „Feinde des Volkes“ fallengelassen wurden, trat er in das Fremdspracheninstitut Alma-Ata ein. Später arbeitete er an einer Schule, sowohl in kasachischen, als auch in russischen Klassen. Er hatte viele dankbare Schüler. Er brachte den Kindern das Schwimmen und das Schießen mit dem Luftgewehr bei, denn noch während seiner Ausbildung an der Marineschule war er Sportmeister in diesen Disziplinen. Darüber hinaus weckte er bei den Kindern die Liebe zur Fotografie, und sie waren bereit, stundenlang nach einem günstigen Blickwinkel zu suchen, um die Feinheiten eines Entwicklers und eines Fixierers zu ergründen…

– Mein Vater war überhaupt ein einzigartiger Mensch, – fährt Nadezhda Walentinowna fort. – Er sprach mit Leichtigkeit Aserbaidschanisch und Tatarisch. Und er spielte auch ausgezeichnet verschiedene Musikinstrumente: Akkordeon, Gitarre und noch viele andere. Er und meine Mutter sangen großartig und nahmen an Amateuraufführungen teil. Sie waren ein wunderschönes und harmonisches Paar! Ich wiederhole noch einmal, dass meine Eltern in den den 90er Jahren, als Menschen verschiedener Nationalitäten, darunter Deutsche, massenhaft Kasachstan verließen, nicht einmal im Traum daran dachten, ihre zweite Heimat zu verlassen, die ihnen so sehr ans Herz gewachsen war. Mama arbeitete als Lehrerin für Chemie und Biologie, der Vater unterrichtete Sprachen. Dann wurden wir geboren – Ich und meine kleinere Schwester Ljudmila, die in den 70er Jahren die pädagogische Schule als Kindergärtnerin abschloss und nach Jekaterinburg ging, wo sie noch immer mit ihren Kindern und Enkeln lebt.

Was die deutschen Traditionen angeht, gibt meine Heldin zu, dass sie zu Hause Angst hatten, in ihrer Muttersprache zu sprechen, sie hatten Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte und Anfeindung und Verfolgung von neuem beginnen würden. Trotzdem hat ihre Großmutter den deutschen Bräuchen und der Sprache so gut es ging Respekt gezollt: sie hat ihr beigebracht, zu beten, die Nationalgerichte zu kochen, zu sticken, zu stricken und so weiter.

– Übrigens, obwohl mein Vater in der Familie nicht in seiner Muttersprache gesprochen hat, unterrichtete er die Kinder mit großer Freude, – betonte Nadezhda Walentinowna. – Einem Waisenjungen unter seinen Schützlingen wandte sich Vater besonders zu, Erken Abischew, der später ein berühmter Drehbuchautor in Moskau wurde. Wir sind buchstäblich zusammen aufgewachsen! Papa steckte so viel väterliches, männliches in Erken, er hat ihn wie einen Sohn behandelt: Er nahm ihn mit auf die Jagt oder zum Angeln. Wir sind immer noch befreundet, manchmal telefonieren wir miteinander, und Erken erinnert sich mit großer Dankbarkeit an die Kinderjahre und daran, dass, wenn er nach Berlin kommt, im reinsten Berliner Dialekt spricht, den ihn sein Vater beigebracht hat.

Und unsere Heldin hat die Schule im Dorf Bakytschik, dem heutigen Dorf Auezow, abgeschlossen. Die Eltern haben dort bis zu ihrer Pensionierung gearbeitet. Dann trat sie in das Pädagogische Institut Ust-Kamenogorsk in die Fakultät für Musik ein, absolvierte diese und kam dann in das Dorf Bolschajy Wladimirowka. Heute ist dies das Regionalzentrum – das Dorf Beskaragaj. Nadezhda Walentinowna wurde buchstäblich zur Pionierin der Musikschule im Dorf, wo sie 40 Jahre lang arbeitete und seit 1975 lebt. Auch ihre Mutter und Großmutter brachte sie hierher. Hier wurde sie zum Profi und fühlte sich immer zu gesellschaftlichen Aktivitäten hingezogen. Zum Beispiel koordiniert Nadezhda Zigle seit dem Jahr 2000 die Arbeit der Filiale der deutschen Vereinigung „Wiedergeburt“ (damals noch Gebiet Semipalatinsk) im Bereich der humanitären Hilfeleistungen, heute leitet sie dieses Zentrum.

Und als im Jahr 2012 das Beskaragajsker Haus der Freundschaft, das Zentrum der gesellschaftlichen Eintracht, seine Pforten öffnete, wurde sie sofort zur Vorsitzenden der deutschen ethnokulturellen Vereinigung gewählt. Madezhda Walentinowna veranstaltet Treffen des Begegnungsklubs für Senioren, Jubiläumsveranstaltungen und nationale Feiertage. Natürlich muss aufgrund der Coronavirus-Pandemie vieles im kleinen Kreis organisiert werden, aber die Arbeit hört nicht auf! Zum Beispiel haben die Aktivisten vor kurzem ein Programm für den internationalen Tag der Freundschaft vorbereitet.

Es muss betont werden, dass Nadezhda Zigle für ihre professionelle Tätigkeit wiederholt auf höchstem Niveau ausgezeichnet wurde. Sie besitzt die Verdiensturkunde des Ersten Präsidenten Kasachstans, des Elbasy Nursultan Nazarbajew zu Ehren des zehnten Jahrestages der Unabhängigkeit Kasachstans, die Urkunde des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Republik Kasachstan, die Medaille „Abzeichen der Arbeit“, sowie eine Reihe von Jubiläumspreisen und mehreren Dankesschreiben der Versammlung des Volkes Kasachstans usw.

– Ich liebe es, zu kochen, zu stricken, und Gemüse auf unserem Gartengrundstück anzubauen, – sagt Nadezhda Walentinowna. – Aber die meiste Kraft stecke ich in die freiwillige und gesellschaftliche Tätigkeit. Durch den Ruf meines Herzens helfe ich den Menschen, ihre „Wurzeln“ zu finden, Dokumente wieder herzustellen oder Verwandte wiederzufinden.

Elena Paschke

Übersetzung: Philipp Dippl

Поделиться ссылкой:

x