Geächtet

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Durch das kleine Fenster flimmerten die endlosen, unbeweglichen Steppenlandschaften. Der Magen verkrampfte sich ab und zu und, um nicht ans Essen denken zu müssen, sangen und beteten die Fahrgäste der Güterwagen mit gedämpfter Stimme.

Das wehmütige und monotone Klopfen der Räder des Eisenbahntransportes wechselte sich ab mit den seltenen Zwischenstopps, die der tristen Atmosphäre eine seltsame, mehrdeutige Wiederbelebung einbrachten: es war wieder einmal Zeit, die toten Körper aus den Waggons zu werfen…

Fast eine Million resignierter Fatalisten, die sich einst über die Interessen des Heimatlandes hinwegsetzten. Sowjetische Deutsche. Ausgestoßene, Gedemütigte und Verleumdete. Zwangsdeportiert und in unentgeltliche Sklavenarbeit in Forstbetriebe, Fabriken und Bergwerke verbannt. Und demütig und unterwürfig nahmen sie ihr trauriges und empörendes Schicksal an.

Zu diesem Thema kann man lange abstrakte Diskussionen unter dem Einfluss aller möglichen ideologischen und philosophischen Deutungen führen, in die Tiefen der Details und Nuancen eintauchen, rechtfertigen, Vorurteile erheben, verteidigen, beschönigen… Aber der Wesenskern liegt woanders.

Jeder normale und anständige Mensch versteht sehr gut, dass der Krieg eine äußerst schwierige, schreckliche und ungerechte Zeit ist, die kolossale, grausame und unmenschliche Opfer fordert, die von mephistophelischen Dogmen, kranker Vorstellungskraft, politischem Pragmatismus, Polulismus und Profitsucht erzeugt wird.

Lassen Sie es uns ganz ehrlich aussprechen: es hat sich gelohnt, zu deportieren und zur Zwangsarbeit zu schicken. Kostenlose Arbeitskraft, kein Lohn, eine Essensration von einem Groschen, hinter Stacheldraht und unter der strengen Aufsicht von Schützen mit Maschinenpistolen. Im Wesentlichen wurden die Reihen der Arbeitssoldaten mit jungen und mehr oder weniger starken Menschen aufgefüllt: In den Forstbetrieben schufteten selbst 16-jährige Mädchen. Und diejenigen, die das nicht durchgehalten haben und starben, wurden in der Regel nicht begraben…

Виктор Боргардт
Виктор Боргардт

Durch die Strapazen der Arbeitsarmee gingen auch die Verwandten von Wiktor Borgardt, Bewohner des Dorfes Zhelezinka im Gebiet Pawlodar. Insbesondere sein eigener Großvater kehrte entkräftet und schwerkrank aus der Zwangsarbeit zurück – er konnte seine Beine kaum noch bewegen.

Und dies erzählt Wiktor Borgardt über die Deportation selbst:

– Die Züge hielten an: manche Familien konnten ein wenig essen, haben das Essen mit irgendjemandem geteilt, aber es gab besonders viele Familien, aus anderen Regionen, die hatten nichts zum überleben. Wenn irgendwo etwas übriggeblieben ist, wenn jemand seine Lebensmittel geteilt hat, dann war das gut. Aber im Allgemeinen gab es viele Todesfälle, und zwar Hungertote. Die Menschen sind auf der Reise gestorben, – erzählt Wiktor Borgardt, aktives Mitglied des Begegnungszentrums Zhelezinka. – Meine Verwandten hatten Glück: die Behörden der Siedlung, in der sie lebten, verhielten sich anständig auf die Vertreibung der sowjetischen Deutschen, – und das kam meines Wissens nach äußerst selten vor.

Die Vorfahren von Wiktor Borgardt wurden in der Siedlung Najschweden, im Kreis Krasnopartizansk im Gebiet Saratow geboren. Die geplante großangelegte Deportation der Bewohner des Dorfes nach Kasachstan wurde nicht erst 24 Stunden zuvor bekanntgegeben, wie es für die Masse der ethnischen Deutschen in der UdSSR der Fall war, sondern sehr viel früher.

– Warum wurde das getan? Damit sich die Menschen vorbereiten konnten. Besonders bemühten sich diejenigen, die in relativ gutem Wohlstand lebten. So haben es meine Eltern und ihre Familienangehörigen geschafft, in nur zwei Wochen so viele Lebensmittel zuzubereiten, dass sie für die ganze Reise genug hatten, – sagt Wiktor Borgardt. – Sie haben Fleisch gebraten, Fett in Feldflaschen gegossen, Mehl gesammelt, Eier in Weizen eingepackt…

Die aus der Wolgaregion deportierten Deutschen wurden von der einheimischen Bevölkerung mit Vorsicht erwartet: Viele glaubten, es würden Teufel mit Hufen kommen, und keine Menschen. Aber sie täuschten sich.

– Die Familie meiner Mutter, Verwandte, die nicht weit weg im Nachbardorf wohnten, wurden in einem Haus mit russischen Rentnern untergebracht, – mekrt Wiktor Borgardt an. – Die Rentner haben die neuen Gäste seltsamerweise gut aufgenommen. … Aber es wurde beschlossen, dass sie nicht lange bei ihnen wohnen würden – die Eltern meiner Mutter hatten die Möglichkeit, eine kleine Hütte zu kaufen. Und das haben sie auch bald getan.

Laut meinem Gesprächspartner fand sich das Geld für den Kauf der Hütte dank des Einfallsreichtums ebenjener Behörden des Heimatdorfes.

– Sie haben zu meinen Verwandten gesagt: schlachtet das Vieh und gebt es uns! Wir konnten so rund 15 Ziegen und eine Kuh abgeben. Dann bekamen meine Verwandten eine Bescheinigung, die am Ankunftsort vorgelegt werden musste, um ein ähnliches Vieh zu erhalten, – erklärt Wiktor Borgardt. Und so ist es am ende passiert: die Führung des Dorfes Komarowka versorgte meine Verwandten mit 15 Schafen. Danach fanden sie im Dorf ein kleines Häuschen und tauschten es gegen eine bestimmte Anzahl an Schafen ein. Dort lebten sie bis zum Jahr 1947. Warum bis 1947? Weil der Vater meiner Mutter in die Arbeitsarmee geschickt wurde. Einige Jahre nach seiner Rückkehr hat die Familie meiner Mutter ein neues Haus gebaut.

In Komarowka lebten überwiegend kasachische Familien. Und die deportierten Deutschen haben sich ziemlich schnell mit ihnen angefreundet. Die deutschen Mädchen haben sogar angefangen, sich die Zöpfe zu flechten und sie mit Bändern und Münzen zu schmücken.

– Mein Onkel Andrej wurde im Dorf sofort als einer der ihren angenommen. Eine Frau, die in sah, sagte: „Бул біздің бала“. Onkel Andrej lebte sehr lange in Komarowka. Jetzt ist er 92 Jahre alt und spricht noch immer perfekt Kasachisch, – gesteht Wiktor Borgardt und schließt ab: – Mit einem Wort, trotz der Mühen, Schwierigkeiten und Probleme, einschließlich der Kommandantur, die bis Mitte der 1950er Jahre existierte, haben alle versucht, im Dorf in Freundschaft zu leben: nach dem Krieg haben wir zusammen auf den Feldern und in der Viehzucht gearbeitet, wir haben gemeinsam Feiertage gefeiert und uns gegenseitig geholfen.

Marina Angaldt

Übersetzung: Philipp Dippl

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