Viktor Kriger: „Die historische Vergangenheit ist das Fundament der Gegenwart und der Zukunft“

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Auf der wissenschaftspraktischen Konferenz der Deutschen Kasachstans, die im vergangenen Mai diesen Jahres in der Hauptstadt stattfand, haben Wissenschaftler aus verschiedenen Städten und Ländern teilgenommen. Einer von ihnen ist Viktor Kriger, gebürtig aus dem Gebiet Dzhambul, Doktor der Philosophie, der seine Doktorarbeit am Institut für Geschichte, Archäologie und Ethnografie der Akademie der Wissenschaften Kasachstans in der Stadt Almaty zum Thema der Geschichte der Umsiedlung der Wolgadeutschen und der Schwarzmeerdeutschen nach Westsibirien, in die kasachische Steppe und nach Turkestan in der vorrevolutionären Zeit ablegte.

Seit 1991 lebt der Wissenschaftler in Deutschland, er arbeitete lange als Projektmitarbeiter und Lektor am Seminar für osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg, seit April diesen Jahres ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland, (BKDR) in der Stadt Nürnberg.

Mehr über das Leben und die Tätigkeit des Forschers erfahren wir in unserem Gespräch.

– Sie sind ein führender Fachmann auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte, Kultur und aktuellen Situation der Russlanddeutschen, sowie der Probleme der Nationalitätenpolitik der UdSSR. Was hat dieses Interesse geweckt?

– Die historische Thematik interessierte mich bereits in den 1980er Jahren, als ich in Nowosibirsk studiert habe. Später gab es Arbeit in einem der akademischen Institute der sibirischen Zweigstelle der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und eine Lehrtätigkeit am technologischen Institut Dzhambul. Da ich gute Kenntnisse in der Muttersprache besaß, konnte ich mich auch in der „Epoche der Stagnation“ mit vorrevolutionären und zwischenkriegszeitlichen Arbeiten zur Geschichte der deutschen Minderheit befassen.

In dieser Zeit waren Veröffentlichungen in der deutschsprachigen Presse nicht unbedeutend, trotz des Schweigens und der ideologischen Zurückhaltung. Besonders möchte ich den Almanach „Heimatliche Weiten“ hervorheben, der seit dem Moment seiner Herausgabe im Jahr 1981 eine Reihe von Artikeln zur Geschichte und Kultur der sowjetischen Deutschen, wie wir zu dieser Zeit genannt wurden, veröffentlicht hat. Nach dem Beginn der Perestrojka und den Veränderungen der politischen Situation wuchs mein Interesse an der Geschichte noch mehr. Im Jahr 1988 wurde ich Doktorand am Institut für Geschichte, Ethnografie und Archäologie der Akademie der Wissenschaften in der Stadt Alma-Ata (Almaty). Das Thema der Dissertationsforschung war die Geschichte der Deutschen, die auf dem Territorium der Republik in der vorrevolutionären Zeit erschienen. Zu dieser Zeit wurde auf Beschluss des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Kasachstans ein Bereich zur Erforschung der deutschen Bevölkerung der Republik gebildet, im Rahmen dessen bis zum Beginn der 1990er Jahre einige Doktorarbeiten erarbeitet wurden und vielversprechende Arbeiten zur komplexen Erforschung der Vergangenheit und Gegenwart dieser nationalen Gruppe begannen. Leider wurde diese Tradition nach einigen Jahren unterbrochen und der Bereich aufgelöst, nachdem die Mehrheit der Mitarbeiter nach Deutschland gegangen waren.

Nachdem ich meine Dissertation in Kasachstan verteidigt habe, hatte ich vor, meine wissenschaftliche Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland fortzusetzen, wohin ich im Jahr 1991 ging. Bis zu einem gewissen Grad habe ich dies geschafft, ich habe an der Verwirklichung einiger wissenschaftlicher Projekte teilgenommen, habe eine Reihe meiner Monografien herausgebracht und viele Artikel veröffentlicht. Langfristige Perspektiven haben sich über längere Zeit hinweg jedoch nicht ergeben. Erst nach der Gründung des Bayerischen Kulturzentrums der Russlanddeutschen ergab sich eine Möglichkeit, und seit April diesen Jahres bin ich dort wissenschaftlicher Mitarbeiter. Wir planen, Arbeiten zur Sammlung, Bewahrung, Entwicklung und Verbreitung des historischen und kulturellen Erbes der Deutschen durchzuführen, die im Russischen Imperium (daher der Name: Russlanddeutsche), in der UdSSR und in ihren Nachfolgestaaten, insbesondere in der Russischen Föderation und in Kasachstan und natürlich auch in Deutschland, wo sich die meisten der ehemaligen „sowjetischen Staatsbürger deutscher Nationalität“ konzentrieren, lebten und leben. Im Rahmen unserer Forschungsaktivitäten wollen wir Kontakte zu verschiedenen Organisationen in und außerhalb von Deutschland knüpfen.

– Wie verlief die Zusammenarbeit mit ihren kasachischen Kollegen nach ihrer Ausreise nach Deutschland?

– Es gab immer ein Zusammenwirken mit Kasachstan, aber es hatte einen unregelmäßigen Charakter. Nach der Veröffentlichung einiger Werke über die deutsche Bevölkerung Kasachstans wechselte ich zum Studium anderer Aspekte der Geschichte, aber die Thematik meiner früheren Heimat blieb gleichzeitig in meiner Arbeit immer präsent. Die Zusammenarbeit mit ehemaligen und neuen Kollegen aus der Republik fand statt, allerdings nur sporadisch. Ich hoffe, dass jetzt die Basis für engere Kontakte entstanden ist. Die Stärkung der Verbindung zu Ihrer Zeitung ist ebenfalls Teil unserer Pläne. Ich bin mir sicher, dass der Austausch von Informationen und Ideen zweifellos in unserer gemeinsamen Arbeit zum Studium und der Verbreitung der Geschichte der Russlanddeutschen helfen wird, wo auch immer sie leben.

– Wie identifizieren Sie sich heute selbst, als Russlanddeutscher oder Deutscher?

– Gute Frage. In Deutschland gibt es eine widersprüchliche Haltung zur nationalen Geschichte. Das Selbstbewusstsein ist stark geprägt von der kritischen Auseinandersetzung der jüngsten Vergangenheit, mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes, welche mit erheblicher Intensität in den Medien, im Bildungsbereich und in der Politik stattfindet. Jene Deutschen, die aus der früheren UdSSR nach Deutschland umgesiedelt sind, besitzen ihre eigene nationale Geschichte, ihr historisches Gedächtnis. In einer toleranten, demokratischen Gesellschaft ist dies kein Hindernis für die Identifikation mit dem Land des neuen Wohnsitzes, insbesondere für die zweite und die folgenden Generationen, die bereits in der Bundesrepublik geboren sind. Ich bin selbst Staatsbürger Deutschlands, ich bin dem Land loyal, ich respektiere die Gesetze und nehme eine aktive zivile Position ein, was mich nicht daran hindert, mich selbst als Russlanddeutschen zu betrachten.

– Dieses Jahr ist ein Jubiläum – 30 Jahre Allunionsbewegung der Deutschen. Was wünschen Sie den Deutschen Kasachstans?

– Ich glaube, dass man immer verstehen muss, dass die historische Vergangenheit die Grundlage für die Gegenwart und die Zukunft ist. Deshalb kann der, der seine Geschichte gut kennt, der aus den Taten seiner Vorfahren die richtigen Schlüsse zieht, souverän und gelassen in die Zukunft blicken. Das sage ich als Historiker und Mensch, der bereits viel gesehen hat und eine gewisse Lebenserfahrung besitzt. Ich begrüße immer Initiativen, welche in diese Richtung gehen. Ich möchte meinen früheren Landsleuten lebenslangen Optimismus und Selbstvertrauen wünschen. Das 30-jährige Jubiläum zeigt, dass die Menschen aktiv waren, sich bemühten und nach dem Besten strebten. Es muss daran erinnert werden, dass niemand in der Geschichte je die Rolle der Identität außer Kraft setzen konnte, jeder Mensch, der hartnäckig nach einem bestimmten Ziel strebt, wird dieses auch sicher erreichen.

– Vielen Dank für das Interview und die aktive Teilnahme am Leben der Deutschen Kasachstans.

Interview: Anastasija Korolewa

Übersetzung: Philipp Dippl

 

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