Wie das von repressierten Menschen gegründete Dorf an die Deutschen erinnert

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Tatjana Besganz und Nadeschda Morewa stammen aus dem Dorf Letowotschnoje im Bezirk Taiynscha in der Region Nordkasachstan. Sie haben kürzlich an den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über ihre Region teilgenommen. In dem Film erzählten die Frauen von den Traditionen der örtlichen ethnischen Deutschen und machten auf wichtige Probleme aufmerksam.

Es wird nicht in der Schule unterrichtet, sondern in Kursen – Deutsch ist in Kasachstan schon lange nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Die Sprache Schillers und Goethes wird vor allem in Fachkursen gelehrt, während in den Schulen diese Fremdsprache kaum zu finden ist. Selbst ethnische Deutsche können in Kasachstan kein Deutsch. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch im ländlichen Hinterland, wo die Deutschen in der Regel eine ehrfürchtigere Haltung zu früheren Traditionen und zur Kultur haben, erinnern sie sich nicht an die Sprache ihrer Vorfahren.

Der dokumentarische Kurzfilm, der mit Unterstützung des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR) und der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) entstand, erzählt vom Leben in einem kleinen Dorf im Norden Kasachstans. Letowotschnoje wurde 1936 von unterdrückten Deutschen und Polen aus den ukrainischen Regionen Kiew, Schitomir und Lugansk gegründet. Sie waren größtenteils einfache Bauern und Arbeiter. Sie arbeiteten von morgens bis abends, erschlossen Neuland und schufen leistungsfähige Betriebe.

Heute leben in Letowotschnoje etwas mehr als 300 Menschen, davon 78 Deutsche. Die Bevölkerung in der Peripherie der Region Nordkasachstan nimmt Jahr für Jahr stetig ab. Die Menschen wandern ab und überlassen ihre Häuser oft ihrem Schicksal – es gibt niemanden, der bereit ist, dort Wohnraum zu kaufen – praktisch für einen Pfennig.

„Ein weiteres großes Problem ist heute die fehlende Motivation, Deutsch zu lernen. Die Deutschen, die in unserem Dorf leben, sprechen zu Hause nicht ihre Muttersprache. Auch in der Schule wird kein Deutsch gelehrt“, sagte Tatjana Besganz bei den Dreharbeiten zum Film. „Aber es gibt Kreise und Kurse bei der Gesellschaft der Deutschen ‚Wiedergeburt‘. Die Kinder besuchen sie gerne.“

Die Liebe zu Deutsch durchbohrte Tatjanas Herz in der neunten Klasse. Die Gefühle waren gegenseitig – die Sprache fiel dem Mädchen leicht.

„Ich erinnere mich, dass meine Deutschlehrerin in der Schule, Nadeschda Iwanowna Morewa, mich eines Tages zu einem Sprachseminar in Petropawlowsk mitnahm. Damals habe ich die Veranstaltung sehr genossen und mich schließlich für meinen zukünftigen Beruf entschieden“, sagt Tatjana Besganz. „Im Jahr 2004 begann ich an der Staatlichen Kosybajew-Universität Nordkasachstan ein Bachelorstudium der Fremdsprachen (Deutsch und Englisch). Nach meinem Abschluss konnte ich dank des Programms Au-pair Mädchen (2008-2009) nach Deutschland. Dort lernte ich Deutsch in der Praxis, kehrte dann ins Heimatland zurück und bekam eine Stelle als Deutschlehrerin in der örtlichen Gesellschaft der Deutschen ‚Wiedergeburt‘“.

Die Familie Besganz versucht, die jahrhundertealten Traditionen ihrer Vorfahren zu bewahren. Tatjana, ihr Mann und ihre Kinder nehmen aktiv an den deutschen Festen teil, die jedes Jahr im multinationalen Letowotschnoje organisiert werden. Der Bezirk Taiynscha in der Region Nordkasachstan ist ein anschauliches Beispiel für die repressive Politik der Sowjetunion im letzten Jahrhundert. Ein gemeinsames Unglück hat einst Tausende von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen vereint und zusammengeführt. Interethnische Toleranz und Solidarität wurden zur Grundlage der lokalen Mentalität. Dennoch verlassen immer noch viele Deutsche die Region.

„Sechs Jahre lang wurde in Letowotschnoje überhaupt kein Deutsch unterrichtet. Doch im letzten Jahr wurden die Kurse wieder aufgenommen und ich konnte zu meiner Lieblingsbeschäftigung zurückkehren“, gab Nadeschda Morewa im Gespräch zu. „Besonders spannend und wichtig für mich sind jetzt die Kurse des Frauenkreises. Sie finden in einer warmen und herzlichen Atmosphäre statt. Bewohner unseres Landkreises, die besonders neugierig sind, lernen vergessene Seiten aus der Geschichte des deutschen Volkes kennen, tauschen Familienrezepte und Geschichten aus und nehmen an Kursen teil.“

Tatjana Besganz ehemalige Lehrerin und jetzige Kollegin und Mitarbeiterin Nadeschda Morewa ist ebenfalls eine eifrige und kreative Aktivistin aller lokalen Veranstaltungen zur deutschen Kultur. Die Verwaltung des Landkreises Letowotschnoje würdigt die tatkräftige Aktivität und Initiative der Frauen hin und wieder mit Dankesbriefen. Nadeschda sieht Deutsch als ihre Berufung an, obwohl sie seit langem Russisch und Literatur in der Schule unterrichtet.

„1997 erhielt ich ein Zertifikat, das mich berechtigt, Deutsch für Kasachstaner zu unterrichten, die für einen dauerhaften Aufenthalt nach Deutschland reisen. Seitdem ist Deutsch zu meiner zweiten Muttersprache geworden“, betonte Nadeschda Iwanowna im Gespräch. „Zwanzig Jahre lang, von 1997 bis 2017, habe ich Kurse bei der Gesellschaft der Deutschen ‚Wiedergeburt‘ gegeben: Die Kultur, das Leben, die Sitten und Gebräuche der Deutschen von Letowotschnoje wurden zu einem festen Bestandteil meines Lebens. Ich habe umfangreiches historisches, ethnisches und ortsgeschichtliches Material über das Leben der Deutschen in unserem Dorf zusammengetragen. Es ist schade, dass sich heute nur wenige Menschen dafür interessieren…“

Marina Angaldt

Übersetzung: Annabel Rosin  

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