Die Deutschen in Kasachstan und Sibirien: Geschichte und Entwicklungsprobleme der Gegenwart

Bibliografische Beschreibung:
Der Sammelband „Die Deutschen Kasachstans und Sibirien: Geschichte und Entwicklungsprobleme der Gegenwart“ enthält Materialien der gleichnamigen Internationalen Wissenschaftlich-praktischen Konferenz. Die Autoren der Beiträge untersuchen Fragen der Entstehung und der ethnohistorischen Entwicklung der deutschen Bevölkerung, einschließlich Deportation, Arbeitsarmee und Sondersiedlungen, sowie den aktuellen Stand der Sprache und Kultur der Deutschen. Darüber hinaus werden verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Entwicklung eigener Schulen für die deutsche Volksgruppe und dem Aufbau deutscher ethnografischer Sammlungen in Museen in Kasachstan und Sibirien untersucht. Der Sammelband richtet sich an Fachleute aus den Bereichen Geschichte, Ethnographie, Archivwissenschaft, Lokalgeschichte, Museologie und alle, die sich für die Geschichte und Kultur des deutschen Volkes interessieren.

Kultur: Die deutschen Sibiriens

Erwin Gossen (18. Juli 1931 – 9. Februar 2020)

Wir müssen die Menschen lehren, wach zu sein und unser Land, das uns der Allmächtige nur gepachtet hat, zu respektieren!

Agrarwissenschaftler, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Republik Kasachstan, Leiter der Agrarrichtung der wissenschaftlichen Vereinigung der Deutschen Kasachstans, Lenin-Preisträger.

Wladimir Baumeister

Der große Chirurg der höchsten Kategorie, verdienter Arzt der Republik Kasachstan, Musterschüler des Gesundheitswesens, verdienter Eisenbahner Wladimir Albertowitsch Baumeister wurde zum wiederholten Male zum Abgeordneten des Kreis- und Stadtrates gewählt. Er wurde 12 Mal als Abgeordneter des Oberen Rates der Kasachischen SSR einberufen. Das sind 12 behördliche Auszeichnungen, darunter der Orden „Kurmet“ und das Ehrenabzeichen. Aber die wichtigste Auszeichnung wie in jedem Beruf (und insbesondere in der Medizin) ist die Anerkennung des Volkes. Sein Respekt, die Liebe der Menschen, seine Dankbarkeit sind endlos. Dafür hat er sein ganzes Leben lang gearbeitet, welches er ausnahmslos den Menschen gewidmet hat. Mit goldenen Buchstaben steht der Name des großen Meisters in der Chronik des Krankenhauses der Eisenbahner geschrieben: Solch ein Fleiß, solch eine Selbstlosigkeit, solch eine Hingabe zu seiner Arbeit war vielen unbekannt.

… Baumeister ist groß. Die Kasachen würden sagen: Ken. Ein kasachisches Sprichwort lautet: Ken bolsan – kem bolmajsyn.

… Baumeister ist großmütig. Großmut ist innerer Edelmut. Er ist gewebt aus Edelmut, dieser Doktor Baumeister, Sohn von Albert.

Aber wer ist er, dieser Zeit seines Lebens so vom Volk verehrte Doktor Baumeister? Ein seltener Experte. Chirurg und göttlicher Organisator. Mit Liebe zu den Menschen, mit Liebe zu seinem Beruf, mit Liebe zu der Welt in der er lebt und arbeitet. Man sagt nicht umsonst, dass ein Mensch ohne Liebe zu seinem Vaterland nichts wert ist. Jeder von uns macht sich sein halbes Leben lang einen Namen (vielleicht sogar sein ganzes Leben lang). Und danach arbeitet dieser Name für sich selbst, für die Kinder und Enkelkinder… Gute Taten machen einen guten Namen. Schlechte Taten schaffen einen schlechten Namen. Der große Name Baumeister arbeitet für alle Menschen. Im Großen und Ganzen kommen wir alle auf die Welt, um etwas Gutes für die Menschen zu machen. Schließlich werden alle großen Entdeckungen und Erfindungen dazu gemacht, um das Leben aller zu verbessern und zu erleichtern. Wir versuchen, so viel wie möglich zu wissen und zu erlernen, um uns gegeneinander zu helfen. Wie sagte der Dalai Lama der 14te? „Wenn die Menschen einander nicht helfen, wozu leben sie dann überhaupt?“

Wladimir Albertowitsch steht mit absoluter Hingabe für all dies: für die Wahl des Berufes, welcher zu seinem Lebensinhalt wurde, für die Hilfe zu den Menschen, was zu seiner Berufung wurde. Virtuos führte und führt er Operationen aus. Er hat mehr als 13.000 Mal operiert, der Anteil der Geheilten und Überlebenden war und ist sehr hoch. Die Operationen liefen mit dem Mitgefühl für die Verletzungen des Patienten ab, weshalb die Ergebnisse verblüfften, selbst die schwersten Krankheiten wichen zurück. Operationen von Baumeister galten als großes Glück und als Faustpfand für das spätere Wohlbefinden. Abgesehen von der eigentlichen Behandlung heilte er die Menschen mit seiner Rücksichtnahme und mit guten Worten. In all den Lebensjahren übertraf das Interesse von Baumeister am Patienten alles andere. Er war ein Verfechter der Sauberkeit in allen Belangen, sah sie als die Garantie der physischen und geistigen Gesundheit an. Er selbst wurde nie krank und fürchtete sich nicht, krank zu werden. Als Grundlage der Heilung betrachtete er die Aufmerksamkeit für den Patienten und den freundlichen, menschlichen Umgang. An diesen moralischen Grundlagen änderte er nichts.

In seiner Position als Chefarzt des Krankenhauses der Eisenbahner (als Chefarzt arbeitete er 26 Jahre, von 1978 bis 2004) machte er Unmögliches möglich: er baute die alten Gebäudeblöcke aus und errichtete neue, untereinander verbunden mit warmen Übergängen, baute ein Verwaltungsgebäude, zum ersten Mal eröffnete im Eisenbahnkrankenhaus eine Apotheke, eine Betriebskantine, ein Parkhaus und eine Leichenhalle. Im Jahr 1992 wurde das siebenstöckige Gebäude der Poliklinik in Betrieb genommen, das Zweite in der UdSSR. Momentan existiert kein gleichartiges. 1200 Besuche pro Schicht. Die Poliklinik wurde mit der damals modernsten Ausrüstung ausgestattet, einschließlich elektrische Chipkarten. Alle Verfahren in der Laborforschung wurden modernisiert. Zum ersten Mal ging in einer Poliklinik eine Heilsauna und ein Salzstollen in Betrieb.

In den schwierigen 90er Jahren wurden mit Waggons aus dem nahen und fernen Ausland, insbesondere aus Deutschland, medizinische Ausrüstung und Medikamente geliefert, welche in den Apotheken nicht verfügbar waren. Der Apparat zur Darmspiegelung (ÖGD) oder der Apparat für Magnetresonanztomographie waren nicht nur die ersten im Krankenhaus der Eisenbahner, es waren die ersten in ganz Kasachstan. Während der Zeit von Baumeister als Chefarzt erhöhte sich die Zahl der Bettplätze von 410 auf 870. Es eröffneten 25 Abteilungen, welche wie ein einziger Organismus zusammenarbeiteten, wie ein einziges Ganzes. Im Krankenhaus gab es praktisch keine Arbeitskräftefluktuation. Alle Arbeitskräfte, die mit ihm angefangen haben, blieben bis zur Pensionierung.

Im Jahr 1978 standen 201 Menschen auf der Warteliste für eine Wohnung, welche nur an Ärzte verteilt wurden. Als er ging, gab es keine Warteliste mehr. Vom Arzt bis zur Krankenpflegerin waren mit Wohnungen versorgt. Dank der unglaublichen Anstrengungen des Arzes war das Krankenhaus der Eisenbahner für viele Jahre auf dem besten Platz nicht nur in der Stadt, sondern in ganz Kasachstan, und das zu erreichen war höchst problematisch. Die Therapie in allen Parametern blieb auf höchsten Niveau.

Doktor Baumeister beteiligte sich aktiv an den Umsetzungen der Programme zur Unterstützung der deutschen Minderheit in Kasachstan teil, welche vom Innenministerium Deutschlands verwirklicht wurden. Auf dem Gelände des Eisenbahnerkrankenhauses wurde unentgeltlich eine Räumlichkeit eingerichtet, in der 1997 eine soziale und medizinische Hilfsstation eröffnet wurde, welche kostenlose ärztliche Behandlung anbot und wo eine warme Mahlzeit sowie eine Auswahl an Lebensmitteln für Menschen ohne soziale Absicherung bereit stand. Das Deutsche Rote Kreuz lieferte Medikamente für die Klinik.

Baumeisters Name wurde zum Symbol für Ordnung, Gewissen, Ehre, Edelmut. Für heute und für immer ist er einer der besten Söhne Kasachstans. Er war ebenso unverzichtbar wie … unbequem. Seine Unbestechlichkeit und seine hohen Ansprüche brachten dem unermüdlichen Doktor eine Menge Feinde ein, denen er zwar nie Beachtung schenkte, doch trotzdem von ihnen wusste…

Zwölf staatliche Auszeichnungen, etwa 40 innovative Vorschläge, das ist alles Baumeister. Im Jahr 1991 wird die vertraute Person Präsident N. A. Nasarbajew in den ersten gesamtnationalen Wahlen zum Präsidenten der Republik Kasachstan. Er ist Abgeordneter in vielen Legislaturperioden des Sowjet-Bezirkes und in zwei Legislaturperioden des städtischen Rats der Volksvertreter der Stadt Zelinograd. Ebenso ist er Abgeordneter Städterats der Kasachischen SSR für drei Legislaturperioden sowie Deputierter des Obersten Rates der Kasachischen SSR in der 12. Legislaturperiode.

Die Familie

Wladimir Albertowitsch wurde am 14. Juni 1941 in dem Dorf Grünfeld im Kreis Akstafinsk in der Aserbaidschanischen SSR geboren. Dieses und noch einige weitere Dörfer bildeten einen geschlossenen Lebensraum für die Angehörigen deutscher Nationalität. Zu Beginn des Jahres 1942 wurden alle deutschen Familien nach Kasachstan in das Ostkasachische Gebiet geschickt. Im Jahre 1951 zog die Familie in die Kolchose „Dritte Internationale im Kreis Dschetysaj, Gebiet Südkasachstan. Der Vater arbeitete als Lehrer für Deutsch, später war er bis zur Pensionierung Schuldirektor. Zusätzlich unterrichtete er den Kindern kostenlos im Musikunterricht, jedes Jahr im Sommer sammelte er eine Gruppe Schüler zusammen und brachte sie nach Moskau. Nach seinem Tod strömten dankbare Kasachen zu den Führern der Kreise und Gebiete und erreichten, dass die Straße, in der Albert Baumeister lebte, nach ihm umbenannt wurde. Genau daher stammen die Ursprünge der Selbstlosigkeit unseres Arztes… Die Mutter Kätti Dawidowna war als führende Buchhalterin beschäftigt. Dies war eine typische deutsche Familie mit einem hohen Maß an Selbstverwirklichung und einer guten Beziehung zu allem, was sie umgibt.

In der Familie gab es drei Kinder, Wladimir war der älteste. Mit großer Liebe kümmerte sich die Großmutter um die Erziehung. Sie brachte ihnen nur Gutes bei. Sie lehrte die Muttersprache zuhause, auf der Straße allerdings verbot sie, Deutsch zu sprechen. Sie impfte ihnen den sorgsamen Umgang mit Menschen, der Erde, Tieren und Pflanzen ein. Und als er erwachsen wurde, eine sichtlich traurige Person, fragte sich Wladimir immer, was ihm helfen könnte.

Die Lektionen der Großmutter trugen Früchte: den Menschen zu helfen wurde zum Inhalt seines ganzen Lebens. Jedwede Erinnerung an die Großmutter überschüttete ihn mit Glück. Er bedauert bis heute, dass er wenig für sie gemacht hat, es hätte mehr sein können – das ist das übliche Los gewissenhafter Menschen. „Sie hat mir das Anliegen auferlegt, die Bibel zu studieren“, erinnert sich Wladimir Albertowitsch. Die Bibel wird 12 Mal gelesen mit einem roten Stift in der Hand für die höchste Aufmerksamkeit. Der Koran in der Übersetzung von Waleri Porochowi wird zwei Mal gelesen.

Seit seiner Kindheit wollte er Pilot sein. Er träumte, wie alle kleinen Jungen, vom Himmel, von dem Piloten Tschkalow, vom Weltall. Er wollte in seiner ganzen Jugend Alles.

Die Schule beendete er mit einer Goldmedaille. In den Süden Kasachstans kamen aus der Uljanowsker Sommerakademie Lehrer und agitierten die besten Schüler aus seiner Schule – so praktizierte die UdSSR Agitation. Baumeister war Medallienträger und kam glänzend durch die vorläufige medizinische Kommission. Doch der Repräsentant der Fachschule sagte mit Bedauern, dass er nicht genommen werden würde aufgrund des berüchtigten sechsten Artikels – Nationalität. Das war die erste ungerechte Lehre in seinem Leben. Noch schwerer hatten es nur die Eltern.

Zu einem späteren Zeitpunkt erkrankte die Schwester. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, es kamen irgendwelche Quacksalber. Eine Verbesserung trat nicht ein. Dann wanden sie sich  an Speisser, der Leiter der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses Dschetysai. „Die Menschen glaubten an ihn wie an Gott“. Er diagnostizierte Tuberkulose in den Hüftgelenken und heilte die Schwester. Dies bestimmte den zukünftigen Beruf von Wladimir: er wollte Chirurg werden, so wie Speisser, er wollte Menschen helfen, so wie Speisser. Er schrieb sich im medizinischen Institut Taschkent ein, erreichte 19 Punkte von 17 in der Aufnahmeprüfung. Jedoch immatrikulierte ihn das Rektorat nicht wegen ebenjenem sechsten Artikel. Das war die zweite schwere Lehre in seinem Leben…

Trotzdem war Wladimir niemals wütend auf Menschen oder auf das Leben, weil er immer an die höchste Gerechtigkeit und Ehrlichkeit glaubte. Er versuchte immer, neue Wege zur Lösung von Problemen zu finden, und er fand sie. Wladimir beschließt, auf das medizinische Institut Nowosibirsk zu gehen. Im Zug lernte er Jungs kennen, die sich im Semipalatinsker medizinischen Institut einschreiben wollen. Er stieg mit ihnen in Semipalatinsk aus, immatrikuliert sich, und schließt mit dem roten Diplom ab. Es gab in ganz Kasachstan nur einen einzigen Ort, dem Chirurgen zugewiesen werden konnten. Das Krankenhaus der Eisenbahner in Zelinograd. Viele wollten genau dorthin, aber ihm half die Rektorin des medizinischen Instituts, als sie sagte, sie habe das Recht auf die erste Wahl. Am 5. August 1966 überschritt Wladimir Baumeister die Türschwelle des Krankenhauses der Eisenbahner. Er begann, als Chirurg in der chirurgischen Abteilung und im Wechsel in der Patientenaufnahme in der Poliklinik zu arbeiten. Er erinnert sich an seine ersten Operationen: vier Blinddarmendzündungen an einem Tag.

Wladimir Baumeister beherrschte es seit seiner Jungend, wichtige und richtige Schlussfolgerungen zu treffen, zugunsten der Menschen, zugunsten der Sache. Aus jedem fachlichen Umgang zog er für die Sache wertvolle Erkenntnisse. Das ganze Leben lernte er selbstlos, verschwendete wenig für sich selbst, kaufte viele medizinische Sachbücher. In 1971 wurde er zum leitenden Assistenzarzt ernannt, in 1975 zum Leiter der chirurgischen Abteilung, in 1977 zum Chefchirurgen des Eisenbahnerkrankenhauses. Ab 1978 bis zu seiner Pensionierung war er der Chefarzt des Krankenhauses der Eisenbahner. Er ging am 14. Juni 2004 in den Ruhestand.

Der Vater Albert Baumeister starb im Jahr 1986, er wurde im Kreis Dschetysai, Gebiet Südkasachstan begraben. Die Asche seiner geliebten Großmutter ruht neben ihm. Sein Bruder und seine Schwester wanderten mit ihren Familien und der Mutter 1995 nach Deutschland aus.

„In jedem Urlaub besuchte ich die Mutter, und jedes Mal fragte sie mich: „Komm zu uns hier her!“, sie wollte, dass ihre Kinder bei ihr sind“, erinnert sich der Chirurg. Er schaffte es, von ihr Abschied zu nehmen, bevor sie starb. Ihr letzter Wille war, sie in der Heimat zu begraben, in Kasachstan. Sie hat die Menschen, die Steppe, die Erde immer vermisst, welche ihre Familie aufnahm, die Kinder, welche sie erwärmte, ernährte und zur Heimat wurde.

Wladimir Albertowitsch heiratete mit 23 Jahren. Er studierte zusammen mit seiner Gattin Ljudmilla Iwanowna Schelesnjak. Sie ist Kinderärztin und lehrte später am medizinischen Institut. Im vergangenen Jahr feierten sie 50 jähriges Zusammenleben. Sie kümmert sich immer und um alles. Der einzige Sohn Aleksander ging unerwartet mit 49 Jahren aus dem Leben, genauso wie der Großvater: die Cheyne-Stokes-Krankheit, eine Herzrhythmusstörung. Den einzigen Sohn verloren… alterte er, erblasste er… aber das Leben ging weiter, er musste lernen, von neuem zu leben… sein Handwerk rettete ihn: die Chirurgie, die Arbeit, die Menschen. Die beiden Enkelinnen, Anja, 29 Jahre und Katja, 9 Jahre, stehen in keiner Verbindung zur Medizin.

Die Gebote des Doktor Baumeisters

Der Chirurg handelt zuerst mit dem Verstand und den Augen, und nicht mit der bewaffneten Hand.

Bevor man Chirurg ist, muss man Mensch werden.

Respektiere den Patienten, halte ihn nie für einen Simulanten.

Glaube dem Patienten, höre ihm aufmerksam zu, es ist wichtig, dass er dem Arzt vertraut.

Die Berührung des Arztes ist notwendig, keine Instrumente können die Hände des Arztes ersetzen.

Wenn nötig, muss man Härte zeigen, aber in der Seele muss immer das Gute bleiben.

Autorität muss man sich verdienen.

Ein Tag im Leben des Chirurgen

Wir stehen um 4 Uhr früh auf. Dies befolgt er bis heute mit dem einzigen Unterschied: bis er 60 Jahre alt war, legte er sich um 23 Uhr zur Ruhe, heute um 20 Uhr.

Morgengymnastik. Frühstück. Zu Fuß zur Arbeit. Der Rat des Vaters: „Gehe zu Fuß! Die Kraft kommt aus der Erde!“ Um 6:30 Uhr Ankunft auf der Arbeit. Berichte des sekundären Aufsichtspersonals (Patientenaufnahme und außerklinische Bereiche: Parkplatz, Wäscherei). Bis 8 Uhr Verbandswechsel bei seinen Patienten. Besprechung um 8 Uhr, er wusste immer über den Stand der Dinge aller Abteilungen Bescheid und war bereit für die Berichte der Doktoren, für welche er nicht mehr als eine halbe Stunde verwendete, gab Anweisungen. Um 9 Uhr der Bericht der Buchhaltung und der Personalabteilung. Auf Anweisung von Baumeister stand die Buchhaltung den Angestellten des Krankenhauses zwischen 9 und 18 Uhr für persönliche Fragen offen. Die gleichen Empfangszeiten für Bürger standen an der Türe des Büros des Chefarztes. Sein Gehalt erhielt er als letztes.

Zwischen 10 und 13 Uhr wagte es niemand, ihn zu stören. Er operierte. (Baumeister hat sich lange gegen die Position des Chefarztes gewehrt. Es riefen ihn das Bezirkskomitee, das Stadtkomitee, drohten ihm… Er stimmte nur unter der Bedingung zu, zwischen 10 und 13 Uhr nicht gestört zu werden – ein Chirurg muss jeden Tag operieren).

Nach dem Mittagessen: Konferenzen, Stippvisiten, durch seine Aufmerksamkeit immer zu spät.

Von 17 bis 19 Uhr – Arbeit mit Dokumenten. Zwei Mal in der Woche Aufsicht von 7 Uhr bis 20 Uhr am Abend des nächsten Tages (36-Stunden-Schicht). Am Samstag und Sonntag war er um 7:30 auf der Arbeit. Es wurde zur wichtigsten Gewohnheit seines Lebens: jeden Tag auf der Arbeit sein.

Von jeder Reise brachte er Innovationen mit, die er im Krankenhaus eingeführt hat. Und wenn er Ärzte auf Dienstreise schickte, hat er sie streng belehrt: „Denke scharf nach, was du für das Krankenhaus mitbringen kannst, für die Patienten“.

Der Werdegang eines solch brillanten Chirurgen und Chefarztes (an welchem man sich bereits seinerzeit ein Beispiel nahm) konnte nicht stattfinden ohne ein starkes und professionelles Umfeld. Und zum Glück gab es dieses. Die Liste der Nachnamen und Namen ist endlos. Die Ärzte … von jedem von ihnen nahm er eine Lehre und entwickelte sie weiter bis zur Perfektion.

Petr Konstantinowitsch Andrjun. „Großartiger Chirurg, bester Mensch, er fühlte die Krankheiten mit dem Herzen“, erinnert sich Wladimir Albertowitsch.

„Ich war in Moskau. Eine unvergleichliche Spur im Herzen hinterließ Wiktor Lwowitsch Manewitsch – ein großer Mensch und ein großer Chirurg! Woronzow blieb mir im Gedächtnis: „Ein echter Professor!“ Nikolai Wasiliewitsch Maruk – ein Beispiel für respektvolle Beziehungen echter Ärzte im Institut. Wenn irgendeine Sitzung begann, und seine Abteilung verspätete sich, hörte er bis zum Ende zu, ohne die Übrigen zum aufstehen zu zwingen, und erst nach Ende redete er selbst…“

Der Bau neuer Gebäudeblöcke des Krankenahuses, das Aufbringen der dafür benötigten finanziellen Mittel, die Verhandlungen mit den Bauunternehmen – all das übernahm ebenfalls der Chefarzt Baumeister: „Dank der technischen Entwicklungen Isingarins wurden zwei Gebäudeteile des Krankenhauses verbunden: lange, warme Übergänge wurden gebaut“. In dieser Zeit wurden Krankenhäusern und Schulen zum wiederholten Male nur geringfügige fianzielle Mittel zur Verfügung gestellt, niemand stimmte ihrem Bau zu. Und als sich Baumeister für das siebenstöckige standardisierte Gebäude der Poliklinik einsetzte, blieb eine Frage: Wer wird es bauen? Es halfen dankbare Patienten: Sawtschuk, den Baumeister seinerzeit an den Nieren operierte, leitete „Zelintransstroj“, und der erste Sekretär des Stadtkomitees Wasili Petrowitsch Osipenko half mit der Finanzierung. Der Leiter des ärztlich-sanitären Dienstes Seil Temirbajewitsch Temirbajew trieb die Finanzierung in Moskau im Gesundheitsministerium auf. Michail Klementjewitsch Latikan vollendete nach Sawtschuk das siebengeschossige Gebäude. Und noch viele andere wundervolle Menschen, denen die Erde Kasachstans Kraft gegeben hat, die verstanden haben, dass nur gute Dinge von Bedeutung sind, zumindest im Rahmen ihres Gewissens.

Doktor Baumeister operiert noch immer

Das bescheidene Büro des Doktors befindet sich in der zweiten Etage der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses der Eisenbahner. Bereits im Ruhestand operierte er noch mehr als 1500 Mal,175 Mal alleine in 2014. Er ist noch genauso energisch und begeistert bei der Arbeit. Und bis heute legt der Chirurg die Hand an den Puls des Lebens. Unbedingt jeden Tag eine Schachpartie, jeden Tag Nachrichten Kasachstans schauen und zwei Stunden klassische Literatur. Ich denke, wir brauchen alle ähnliche menschliche Orientierungspunkte, um den Regeln des Lebens und den Prinzipien, nach denen die Menschen den richtigen Weg wählen, zu folgen: den Weg der Ehre und Treue zur beruflichen Pflicht.

  1. W. Wolopaewa, Therapeutische Oberärztin: „W. Baumeister war mein erster Oberarzt. Ein kollosaler Spezialist. Mit dem ärztlichen Gespür. Ein wundervoller Diagnostiker mit goldenen Händen. Ein Anführer bis aufs Mark. Ein Meister im guten Wortsinn. Ein Schöpfer. Unter Baumeister wurden alle Gebäudeflügel gebaut. Er hat selbst alle Projekte erdacht. Er hat das gütigste Herz. Mit welchem Malheur oder mit welchem Problem man auch immer zu ihm kam, er hat immer alle Fragen gelöst. Er war nicht gerade großzügig mit Lob, aber wir haben immer seine innere Wertschätzung gespürt, und das hat gereicht. Wir schätzten ihn für seine Ordnung. Für mich war er die größte Autorität, die man überhaupt sein könnte. Er hat mich erzogen wie ein Führer. Für mich gibt es keine andere Autorität in der Medizin.
  2. A. Logwinenko, Leiter der Abteilung RNMZ: „Jeder, der mit ihm arbeitete, ging durch eine harte, aber mächtige Schule. Und, so soll es sein, wurden zu starken Ärzten und guten Menschen. Fast alle Ärzte wurden nach seiner Schule zu Abteilungsleitern. Und die Krankenschwestern seines Krankenhauses sind heute fast alle Oberschwestern in Ortskrankenhäusern. Er war für uns der wichtigste Lehrer von allen. Und er war der Beste der Besten“.
  3. P. Schurko, Oberschwester in der Zellforschung und Zelltherapie RNMZ: „Ich habe mit Baumeister von 1974 bis 2001 zusammengearbeitet. Deutsche Präzision, Pünktlichkeit, das ist mir im Gedächtnis geblieben und hat sich auf mich übertragen. Dieser ehrliche und gerechte Mensch und Chef. Ich habe niemanden getroffen, der seiner Sache treuer ergeben war. Er sah, wie wir im Winter ohne Jacken von Gebäude zu Gebäude gingen. Und dank seiner unermüdlichen Fürsorge für uns wurden die warmen Übergänge gebaut. Alle verehren ihn sehr. Ich denke, dass es uns, wer mit ihm zusammenarbeitete, sehr viel brachte: seine Schule wurde wichtigsten und besten Lehrbuch des Lebens. Seine Einstellung zur Arbeit, zu den Menschen, er hat alles besser gemacht als andere. Hier im RNMZ gibt es einige Leute, Ärzte, Krankenschwestern, die mit Baumeister gearbeitet haben. Dieser Name verbindet uns. Und im allgemeinen, die besten Erinnerungen des Lebens – es sind die Erinnerungen an diesen Doktor“.
  4. K. Isingarin, erster Verkehrsminister der Republik Kasachstan: „Zu sagen, er war ein wunderbarer Mensch, wäre wie nichts zu sagen. Baumeister ist unser Ein und Alles. Im Jahr 1986 benötigte ich eine dringende Operation am Herzen. Diese hat Doktor Baumeister erfolgreich durchgeführt. Im gleichen Jahr wurde ich als Stellvertreter des Ministers für Straßenbau Konarew nach Moskau gerufen. Vom Arbeitsplatz wurde ich direkt ins Krankenhaus des Kremls (höchste Kategorie) gebracht. Ein Jahr nach der Untersuchung wurde die Diagnose gestellt: ein Tumor. Es hat sich abermals bestätigt. Ich habe Baumeister angerufen. Er war verwundert und antwortete, dass vor einem Jahr alles in Ordnung war. Ich habe ihn gebeten, nach Moskau zu kommen. Mit großem Aufwand durch den Gesundheitsminister Tschasow gelang es, Baumeister nach Moskau ins Kremlkrankenhaus zu bekommen. Die Empörung der Kremlärzte und Akademiker kannte keine Grenzen: Irgend so ein Dorfarzt aus der Steppe Kasachstans wird stellt ihr Urteil in Frage. Und dennoch wurde eine gemeinsame Untersuchung durchgeführt. Und er, Baumeister, bewies, dass es keinen Tumor gab. Es war eine Besonderheit des Organismus und eine Operation war nicht nötig. Hätte er dies nicht bewiesen, wäre eine Operation durchgeführt worden. Seitdem sind 30 Jahre vergangen und alles ist in Ordnung. Baumeister ist wahrlich ein Arzt von Gott gesandt und ein auf höchstem Niveau anständiger Mensch“.

 

Batima Kairschanowa

Eduard Airich

Eduard Airich – der später berühmte der Sowjetunion und Kasachstans im Rasenhockeywurde am 20. November 1918 in der deutschen Siedlung Mariental, dem späteren Regionalzentrum der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geboren.

Sein Vater Ferdinand Ferdinandowitsch Airich (1899 – 1965), gebürtiger Wolgadeutscher, arbeitete als Rechnungsprüfer im Volkskommissariat für Finanzen NarKomFin bis zu dessen Auflösung im Jahre 1941. Seine Mutter Paulina Filippowna (1899 – 1965) war Schneiderin in Engels. Im September 1941 wurden die Eltern in das Gebiet Krasnojarsk deportiert, wo sie bis zum Herbst 1945 in einer der Fischereikolchosen arbeiteten. Anschließend konnten sie umziehen in die Stadt Krasnoturinsk im Gebiet Swerdlow, wo ihr Sohn Eduard in der Trudarmee Arbeit leisten musste. Hier standen sie unter Aufsicht der Sonderkommandatur bis zum Ende 1955, so wie alle Deutschen in der Sowjetunion.

Die Kindheit verbrachte Eduard im Dorf Mariental im gleichnamigen Kanton der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Hier beendete er die siebenjährge Schulausbildung und studierte am Technikum Marxstadt Mechanisierung der Landwirtschaft. Im Herbst 1935 wurde Airich vom Komsomol durch Sonderrekrutierung an die Wolgaer Fachhochschule für Militärluftfahrt entsendet. Zu dieser Zeit beherrschte er die russische Sprache noch schlecht und das Studium zeigte sich schwierig. Aber Beharrlichkeit und Arbeitswille führten bald zu glänzenden Ergebnissen. Bereits im Jahr 1937 prangte sein Name auf der Ehrentafel der Fachhochschule, woraufhin der Militärrat des Militärgebietes Wolga ihn mit einer Ehrenurkunde auszeichnete und in das Ehrenbuch eintrug. Nichtsdestotrotz war es ihm nicht bestimmt Flugoffizier zu werden: Unter den Absolventen der Abschlussprüfungen des Jahres 1938 wurden er und alle Deutschen der Fachhochschule aufgrund ihrer Nationalität exmatrikuliert. Über diesen schweren Schicksalsschlag kam der junge Eduard nur schwerlich hinweg. Nach seiner Rückkehr nach Marxstadt arbeitete er in der Redaktion der Kantonszeitung „Rote Sturmfahne“. In seiner Freizeit trieb er aktiv Sport. Er nahm als Teil der Auswahlmannschaften im Fußball und Hockey für die ASSR der Wolgadeutschen an den Spartakiaden der autonomen Republiken der Russischen Sowjetrepublik teil.

Noch vor Beginn des Krieges, im Jahre 1940, trat er den Reihen der KPdSU bei, aber am Tag der Kriegsbekanntmachung erklärte er sich freiwillig auf einer Versammlung in Marxstadt zum Abmarsch an die Front. Doch dazu kam es nicht.

Im September 1941 wurde Eduard Auchich zusammen mit seiner Frau und dem einjährigen Sohn in das Gebiet Krasnojar deportiert. Hier wurde die Familie getrennt, als man dessen Oberhaupt in die Trudarmee in den nördlichen Ural schickte, wo er den leidvollen Marsch der Trudarmisten in die Lager des Bogoslower Aluminiumwerkes in Krasnoturinsk durchlebte. Aber selbst unter den Verhältnissen von Repressionen und Genoziden gegen sein Volk glaubte er an die kommunistischen Ideen und bewahrte die Hingabe zur Partei. Er war politischer Leiter, veranstaltete Parteiversammlungen mit deutschen Trudarmisten und rief zur aktiven Zusammenarbeit mit den Machthabern im Namen des Sieges der Sowjetunion auf. Er war Mitarbeiter der auflagenstarken Zeitung des Bogoslower Aluminiumwerkes „Stalinsche Baustelle“.

Der Sieg der UdSSR über Hitlerdeutschland, im Gegensatz aller Erwartungen von Airich, brachte keine Befreiungen der sowjetischen Deutschen und brachte ihn nicht zurück zu seiner innig geliebten Wolgarepublik. Viel mehr wurden sowjetische Staatsbürger mit deutscher Nationalität, darunter solch treue Kommunisten wie Eduard Airich, noch für weitere 10 lange Jahre unterdrückt und von der Sonderkommandatur gedemütigt, vom Studium in zahlreichen Hochschulen ferngehalten und anderen Repressalien ausgesetzt. Dies hinterließ neue, tiefe Wunden in der Seele.

Aber das Leben ging weiter und Airich suchte einen tieferen Lebenssinn. Eine jugendliche Begeisterung für Sport erweckte in ihm neue Kräfte. Im Jahre 1948, im Alter von 30 Jahren, organisierte er in Krasnoturinsk am Bogoslower Aluminiumkombinat die erste Sportschule für Kinder und Jugendliche. 16 Jahre spendete er dieser wichtigen und edlen Sache. Die Erfolge von Airich wurden sogar im fernen Alma-Ata, wie es zu dieser Zeit hieß, wahrgenommen, wohin er im Jahr 1964 für die Funktion des Cheftrainers des örtlichen Hockeyclubs „Dynamo“ eingeladen wurde. Zu dieser Zeit belegte der Club den zehnten Platz in der Tabelle der Meisterschaft der UdSSR im Rasenhockey. Dank der Anstrengungen Airichs erreichte die Mannschaft bereits nach einem Jahr die Bronzemedaille der Meisterschaft der UdSSR. Später führte er die Mannschaft 19 Mal zum Meisterschaftstitel der Sowjetunion, zwei Mal zum Europapokalsieg. Zwischen 1974 und 1986 war er der leitende Trainer der Herrenauswahlmannschaft der Sowjetunion im Rasenhockey, erkämpfte die Bronzemedaille in den 22ten Olympischen Spielen 1980 und die Silbermedaille in den Europameisterschaften.

Über die Jahre der Arbeit in Alma-Ata trainierte Eduard Airich elf verdiente Meister des Sports in der UdSSR, 30 internationale Sportmeister und mehr als 150 Meister im Hockeysport. Im Jahr 1979 wurde ihm der Titel „Verdienter Trainer der Kasachischen Sowjetrepublik“ verliehen, und im Jahr 1973 der Titel „Verdienter Trainer der Sowjetunion“. Im Jahr 1979 verlieh man ihm den Titel „Verdienter Arbeiter der Kultur der Kasachischen SSR“ und im Jahr 1983 den „Orden der Völkerfreundschaft“ der Kasachischen SSR.

Eduard Ferdinandowitsch war ein vorbildlicher Familienvater. Mit seiner Frau Emilia (eine geborene Beckel aus dem Dorf Zürich im Wolgagebiet), einer Absolventin der Marxstädter pädagogischen Fachhochschule, lebte er mehr als ein halbes Jahrhundert in Liebe und Harmonie zusammen bis zu seinem Tod im Jahr 1992. Sie zogen liebenswürdige Kinder groß. Der älteste Sohn Juri (geboren 1940) lebt und arbeitet in Almaty als Vorsitzender einer städtischen Energieversorgungsgesellschaft. Seine Tochter heiratete einen Kasachen und verschwägerte sich mit dem kasachischen Volk. Sie lebt jetzt in der Heimat der Vorfahren. Der zweite Sohn Waleri (geboren 1947) und die Tochter Irina (geboren 1950) leben heute in Deutschland. Die Familiengeschichte von Eduard und Emilia Airich setzt sich fort mit inzwischen 6 Enkeln, 6 Urenkeln und 2 Ururenkeln.

Airich war ein großer Patriot seines Volkes, was er immer mit der Treue zu seinem Vielvölkerstaat verband – die Sowjetunion, die Russische Föderation und ebenso die Republik Kasachstan. In die Nationalbewegung der Sowjetdeutschen schaltete er sich im Sommer 1988 ein, als sich in der UdSSR ihre vierte Delegation auf die Arbeit in Moskau vorbereitete. Später war er Delegierter beim Kongress der Deutschen der UdSSR, beim zweiten Kongress der Deutschen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten und beim ersten Kongress der Deutschen Kasachstans.

Eduard Ferdinandowitsch war eine strahlende, charismatische Figur mit einer unanfechtbaren Autorität in der deutschen Bewegung. Dies förderte eine Reihe strahlender Merkmale seines Charakters, sein erstaunliches Schicksal und Leistungen in seinem persönlichen Leben. Lüge, Heuchelei und unterwürfige Anpassung verachtete der körperliche und geistige Riese und stieß sie ganz und gar von sich. Wenn er redete, faszinierte er seine Zuhörer mit echter Offenbarung und Überzeugung. Er war ein Kommunist durch und durch, aber mit einem strahlenden, menschlichen Antlitz. Aigich glaubte an die kommunistischen Ideen und trennte sich von ihren Grundpfeilern nur mit großer Mühe unter dem Druck der unumgänglichen Enthüllungen in der Periode Gorbatschows „Umbau“ der Sowjetunion. Er glaubte länger als andere an die Führung des Landes durch Staat und Partei und rief zur Zusammenarbeit mit ihr bei der Rehabilitierung seines Volkes auf. Aber bis zum Tode Airichs brachte diese Regierung zu viele negative Anlässe vor, um an ihre Absicht zu glauben, das deutsche Problem in der Sowjetunion und in Russland gerecht zu lösen.

In der Periode der größten Hoffnung auf die positive Entscheidung der deutschen Frage zwischen 1989 und 1991, wurde Eduard Airich in den Kader des staatlichen Organisationskommitees zur Vorbereitung des ersten Kongresses der Deutschen der UdSSR berufen. Er hat seine Arbeit sehr ernsthaft und verantwortungsvoll ausgeführt und ist ständig zu seinen Sitzungen nach Moskau gefahren ungeachtet seines Alters und seiner gesundheitlichen Verfassung. Eduard Ferdinandowitsch lehnte die Idee der schrittweisen Rehabilitierung ab, die vom Zentralkommittee der kommunistischen Partei ausging, und verglich sie mit dem Versuch, die Resultate der Deportation der sowjetischen Deutschen auf ewig zu besiegeln. Er war einer der ersten, der die beispiellosen Repressionen gegen sein Volk bei dem angemessenen, wissenschaftlichen Ausdruck nannte: Genozid. Airich distanzierte sich einige Zeit lang von den radikalen Forderungen der Gruppe um Heinrich Grout, lehnte die sogenannte Gruppe der Konstruktivisten um ihr Oberhaupt Hugo Wormsbecher ab. Umso wertvoller war die Rede Airichs vom Rednerpult in der ersten Etappe des ersten außerordentlichen Kongresses der Deutschen der UdSSR, welcher im März 1991 in Moskau stattfand. Hier entlarvte er das Handeln des behördlichen Organisationskommittees und erklärte demonstrativ seinen Austritt aus demselben. Mehr als 500 Delegierte dieses historischen Forums, die die Regierung der UdSSR als außerhalb des Gesetzes deklarierten, feierten stehend und unter langanhaltendem Applaus diesen mutigen Schritt. Die Delegierten dieses Kongresses wählten aus ihrem Kader 10 außerordentliche Vertreter, darunter Eduard Airich, welche das gesamte Volk aus zwei Millionen Unterdrückten in der Zeit bis zum nächsten gesamtnationalen Forum vertreten sollte. Offenbar, da er auf allerhöchster Ebene Autorität genoss, wurde er nicht von der Liste der Teilnehmer für die Treffen der sowjetischen Deutschen mit dem Präsidenten der UdSSR Michael Gorbatschow gestrichen. Auf dieser Liste befand sich kein Einziger aus der Führung des provisorischen Rates zur Rehabilitierung der sowjetischen Deutschen, welcher auf diesem Kongress gewählt wurde, was besonders das antidemokratische und ungerechte Wesen der Prinzipien der Sowjetmächte auf dem Weg zur Rehabilitierung der Deutschen in der UdSSR betont, ihre Missachtung des wahren Volkswillens.

Auf dem zweiten Kongress der Deutschen der früheren Sowjetunion, der unter der Teilnahme der Regierungen Russlands und der Bundesrepublik Deutschland im März 1992 stattfand, stürzte sich Eduard Ferdinandowitsch wutentbrannt auf den betrügerischen Einfall des russischen Präsidenten Boris Jelzin der Schaffung einer deutschen Autonomie auf dem ökologisch verseuchten Raketentestgelände Kapustin Jar in einem halb ausgestorbenen Kreis in der Region Wolgograd. „Das übersteigt die Grenze jeglichen Zynismus!“, äußerte der frühere Arbeitssoldat. Eine solche Bewertung von Jelzins Rede von den Lippen eines ruhmreichen Veteranen entsprach völlig der Auffassung sämtlicher russischer (sowjetischer) Deutscher, nach der ihr Austritt aus der früheren Sowjetunion unumgänglich wurde.

Zum letzten Mal sahen und hörten wir Eduard Airich am Rednerpult des ersten Kongresses der Deutschen Kasachstans im Oktober 1992 in Alma-Ata. Er sprach mit Schmerz und einer gewissen Hoffnungslosigkeit über die deutschen Trudarmisten. Man spürte in seiner Rede den Bruch, ohne die frühere Zuversicht und Hoffnung. Ebenso wie die zertretenen Hoffnungen der russischen Deutschen auf ihre Rehabilitierung erlosch er gleichsam in den Augen aller, als er die historische Bühne der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verließ. Bald danach, am 18. Januar 1993, verstarb er. Er ging am Morgen zur Arbeit und verließ unsere schuldige Welt für immer. Ein Blutgerinnsel beendete sein irdisches Leben. Ein Mensch schied aus dem Leben und mit ihm ging alle Hoffnung auf eine strahlende Zukunft seines Volkes, und nach ihm verschwanden beinahe alle Vertreter zweier Generationen von Trudarmisten, welche die Herstellung der Gerechtigkeit nicht mehr erlebten. Und all dies unter den Voraussetzungen der zahlreichen Aussagen und Zusicherungen von Seiten der Behörden der UdSSR, Russlands und Deutschlands über ihre Schuld und Verantwortung für das dramatische Schicksal der russischen Deutschen.

Aber das Andenken an Eduard Ferdinandowitsch Airich bleibt für immer in den Herzen Tausender und Abertausender seiner ethnischen Landsmänner, der Sportwelt der Republiken der ehemaligen Sowjetunion und insbesondere Kasachstans. Dankbare Kasachen haben diesem wundervollen Menschen ein Denkmal in Form der Umbenennung einer Straße in der früheren Hauptstadt Almaty ihm zu Ehren und einer Gedenktafel an seinem Wohnhaus gesetzt.

 

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